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#heartwise

Das ist Meditation

Unseren eigenen Geist kennen lernen

Als ich sieben Jahre alt war, begab sich mein Vater auf eine spirituelle Reise. Er probierte Hypnose aus, Fasten, Nachtspaziergänge im Wald und brachte sich selbst das Meditieren bei. Mir zeigte er es auch. Damals war Meditation noch ein klein wenig exotisch. In der Pause an einem Frühlingsnachmittag versammelte ich vier oder fünf meiner Freunde auf der Wiese und zeigte ihnen, was ich gelernt hatte. Schließe deine Augen, zähle deine Atemzüge bis zwanzig, und wenn du deine Augen öffnest, sieht alles strahlend blau aus. Es war sofort ein Hit.

Meditation hat in unserer Gesellschaft in den letzten dreißig Jahren einen langen Weg zurückgelegt, ihre wahre Tiefe wird aber bis heute oft verkannt. Meditation ist einfach und leicht verständlich, doch gleichzeitig kraftvoll und subtil. Sie ist mehr als ein Mittel, um zu entspannen, die Aufmerksamkeit zu schärfen, die Gesundheit zu verbessern oder die Welt strahlender erscheinen zu lassen – der Buddha lehrte Meditation, um Leiden von Grund auf zu entwurzeln und unser vollständiges menschliches Potential zu erreichen.  

Der Buddha machte sich nicht auf, um durch Meditation Stress zu überwinden oder effizienter zu werden. Er suchte nach der Ursache von Frustration und Schmerz, die wir Menschen erleben. Die Ursache, die er entdeckte, ist die tiefgehende, hartnäckige Gewohnheit, keinen Bezug zur Realität zu haben – eine Gewohnheit, die durch Ablenkung aufrechterhalten wird. In Wirklichkeit ist alles miteinander verbunden und verändert sich ständig, wenn wir aber abgelenkt sind, sind wir Ursache und Wirkung gegenüber beinahe blind und fixieren uns meist nur auf das, was sich direkt vor uns abspielt. Es kann ganz einfach sein, dass wir nicht bemerken, welche Auswirkungen unsere eigene Stimmung auf andere hat, oder, was noch gefährlicher ist, wir können ignorieren, welche Auswirkungen unser Alltag auf das globale Klima hat.

Mein Dharma-Lehrer betonte immer, dass Meditation ein Vorgang ist, in dem wir unseren eigenen Geist kennen lernen. Das ist entscheidend, da der Geist der wichtigste Faktor in unserem Leben ist. Er ist es, der erlebt, weiß, denkt, fühlt und er ist der Initiator von allem, was wir kommunizieren und tun. Der Geist ist das Zentrum unserer Welt, es lohnt sich also zu fragen: Wie gut kenne ich meinen eigenen Geist? Wie gut kümmere ich mich um meinen Geist?

Ist der Geist chaotisch, verwirrt oder unaufmerksam, spiegelt sich das in unserem Verhalten und all seinen Folgen wider. Wenn der Geist andererseits ruhig ist, klar und wach, sind wir ganz natürlich mehr im Einklang mit uns selbst und der Welt um uns. Wir sind in der Lage, allem, was uns begegnet, ausgeglichener, klarer, mitfühlender und vorrausschauend gegenüberzutreten.

Am Anfang geht es bei der Meditation darum, den Geist zu sammeln und durch Achtsamkeit und Nicht-Abgelenktheit Ruhe und Stabilität zu entwickeln. Wir lernen, den Geist nach Hause zu bringen, indem wir einfach sind, anstatt etwas Bestimmtes zu tun, auf etwas zu reagieren oder über etwas zu urteilen. Wir schaffen eine Haltung der Offenheit gegenüber Gedanken, Emotionen und Erfahrungen, weil wir nichts von uns schieben, aber auch nichts hinterherjagen, sondern einfach weit offen, achtsam und gewahr sind. Diese Balance von weit offener Achtsamkeit und Gewahrsein wird zur Grundlage dafür, dass sich unsere Verwirrung legt und wir unseren Geist und unsere Erfahrungen immer klarer verstehen. Sie lässt eine natürliche Harmonie in uns und in unserer Beziehung zur Welt um uns entstehen.

Im Herzen ist Meditation ein Weg, die innewohnende Natur unseres Geistes zum Vorschein zu bringen – ein unveränderliches, reines Gewahrsein, das unserer gesamten Existenz zugrunde liegt. Wir entdecken, dass Gewahrsein wie der weite offene Himmel ist – grenzenlos, unergründlich und allgegenwärtig. Gedanken, Emotionen, unsere Wahrnehmung und Geschichten sind im Gegensatz dazu nur wie Wolken, die vorüberziehen. Meditationsmeister*innen, die sich selbst auf diesem Weg kennengelernt haben, sprechen davon, einen natürlich großen Frieden entdeckt zu haben– ein ursprüngliches Vertrauen, das sorgenfrei, liebevoll und unerschütterlich ist. Es mag sich so anhören, als hätte das mit unserer eigenen alltäglichen Erfahrung wenig zu tun, aber wenn die Welt kopfsteht, lohnt es sich, die tiefer gehenden Wurzeln von Angst und Stress zu erforschen oder auch die des nagenden Unbehagens, das wir verspüren, weil wir unser Leben auf Sand bauen. Vielleicht lohnt es sich auch, uns ein bisschen genauer mit Meditation zu befassen. In Zeiten wie diesen brauchen wir mehr als einen Lifehack fürs Entspannen oder Mittel zur Leistungssteigerung. Wir müssen unseren eigenen Geist kennenlernen, Meister*in unser selbst und unserer Welt werden und lernen, einfach zu sein, wer wir wirklich sind. Das ist Meditation.

 

English version of this blogpost.

Autor Ian Ives

Ian Ives

Ian hat das Studium, die Praxis und die Erforschung des Buddhismus seit seinen späten Teenagerjahren zu seinem Lebensinhalt gemacht. Er wurde 2003 Rigpa-Lehrer und hat umfangreiche Praxisanleitungen und Belehrungen von Sogyal Rinpoche und Dutzenden anderer Lehrer zu allen Aspekten des buddhistischen Pfades erhalten. Unter der Anleitung von Khenchen Namdrol verbrachte er mehrere Jahre des Studiums an Rigpas College für buddhistische Studien in Nepal. Seit 2010 hilft Ian, Retreats und Kurse in Rigpa international zu leiten. Derzeit lebt er mit seiner Frau und seinen beiden Töchtern in Frankreich und arbeitet daran, die kontinuierliche Entwicklung des Rigpa-Lehrplans für Studium und Praxis zu unterstützen.

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