Skip to content
#heartwise

Jenseits von Wolke 7

Eine (buddhistische) Übung in universeller Liebe

In unserer Serie #heartwise erkunden wir die Grundlagen der (buddhistischen) Meditation. Ein Aspekt der buddhistischen Praxis, der auch viele Nicht-Buddhisten anspricht, ist das Kultivieren eines guten Herzens.  Zwei der Hauptmeditationen, die dafür verwendet werden, sind „Liebe“ (oder „liebende Güte“) – der Wunsch nach Glück und Wohlbefinden für uns selbst und andere – und „Mitgefühl“, das sich auf den Wunsch konzentriert, dass wir selbst und andere frei von Leiden sind.

Während dies für manche ein wenig liebestrunken klingen mag, hat „Liebe“ in diesem Zusammenhang eine breitere Bedeutung, als sie vielleicht in unserem Alltagsverständnis hat. Diese Meditationen können eine Ressource sein, um sich mit anderen und mit einer tieferen Ebene von Sinn und Zweck in unserem Leben zu verbinden.

Wir konnten diese Themen mit zwei wunderbaren Menschen erkunden, die in den letzten Jahrzehnten eine große Expertise im Lehren über Mitgefühl erworben haben: Christine Warmuth und Andrew Warr. Durch ihre Lehrerfahrung haben sie einen guten Einblick in gängige Verständnisse und Missverständnisse von Mitgefühl gewonnen. Hier könnt ihr das Gespräch mit Christines und Andrews anregender und spannender Perspektiven nachlesen.

WFS: Mitgefühl ist Teil unserer Serie #heartwise, in der wir einige Grundlagen der Meditationspraxis betrachten. Sind also die Praktiken des Mitgefühls und der liebenden Güte eine Meditationspraxis? Und wenn wir über ‚die Praxis‘ oder das Üben sprechen, worauf bezieht sich das eigentlich?

Andrew: Im Grunde ist Mitgefühl eine Reaktion auf Leiden. Wenn wir jemanden kennen, der eine schwere Zeit durchmacht, oder wenn wir etwas im Fernsehen gesehen oder über jemanden gelesen haben, der Schwierigkeiten hat, dann ist Mitgefühl eine Reaktion, die zeigt, dass uns das etwas angeht. Wir wollen nicht, dass die Person leidet. Wir wollen helfen. Das ist eine mitfühlende Reaktion.

Wenn wir von „Praxis“ sprechen, bedeutet das, dass wir etwas bewusst kultivieren – in diesem Fall Mitgefühl, und zwar auf eine strukturierte Weise. Wir nehmen uns Zeit dafür, wir sitzen still und reflektieren.

Wenn wir mit dieser Praxis für uns selbst beginnen, könnte man zu der Erkenntnis kommen, dass man vielleicht nicht sehr mitfühlend mit sich selbst ist. Es ist so einfach, uns selbst gegenüber kritisch zu sein, die ganze Zeit an unsere Fehler zu denken. Es ist schwierig, glücklich zu sein, wenn wir das tun. Es liegt also eine Menge Tugend darin, uns selbst gegenüber Liebe oder Warmherzigkeit zu zeigen. Es geht darum, eine gesündere Art zu entwickeln, mit uns selbst umzugehen, unser eigener guter Freund bzw. unsere eigene gute Freundin zu sein. Das macht es also zu einer Praxis bzw. Übung. Wir kultivieren von Herzen kommende Wünsche nach Glück, Wohlbefinden und Freiheit von Leiden für alle.

Christine: Im Buddhismus sprechen wir davon, dass „der Geist das universelle befehlsgebende Prinzip“ ist. Im Buddhismus lernen wir also, wie der Geist funktioniert, wie wir ihn nutzen können und wie er eine kraftvolle Ressource ist. So können wir diesen Geist – wenn wir ihn verstehen – nutzen, um unsere Fähigkeit der Liebe und unser Verständnis von liebender Güte zu trainieren.  Ich finde das sehr inspirierend, denn wir können beeinflussen, wie wir uns fühlen und wie wir handeln. Es weist einerseits darauf hin, dass wir eine Verantwortung haben, aber auch darauf, dass wir ermächtigt sind, dass wir selber Einfluss nehmen können.

Es gibt verschiedene Arten zu meditieren. Man kann still sitzen oder seinen Atem beobachten. In der liebenden Güte nutzen wir unseren Geist aktiv, um unser Herz und unser Verständnis zu erweitern. Ich finde das manchmal sehr herausfordernd, denn manchmal stoßen wir auf Aspekte von uns selbst, die nicht leicht anzunehmen sind und dennoch ist es eine sehr freudvolle Reise.

WFS: Liebe kennen wir heute vielleicht vor allem im Zusammenhang mit der romantischen Liebe oder der Liebe zwischen Eltern und Kindern. Außerdem erleben wir vielleicht in Freundschaften Liebe. Ist das die gleiche Liebe, die man in der Mitgefühlspraxis „übt“?

Christine:  Neulich habe ich ein Zitat gelesen, dass ich sehr inspirierend fand. Es lautete: „Wenn man Menschen lehren kann zu hassen, kann man sie auch lehren zu lieben.“ Es ist von Nelson Mandela. Und ich dachte: Wow! Das nimmt es wirklich weg von dieser Liebe, die spontan entsteht, weil man in jemanden „verliebt“ ist oder Liebe, die man für jemanden hat, weil er oder sie Teil der Familie ist. Es nimmt Liebe wirklich aus diesem sehr persönlichen Kontext heraus und macht sie zu etwas, das wir lernen können. Stellt euch vor, wir würden in die Schule gehen und es gäbe ein Fach: „Liebe lernen“.

Und ich möchte hier etwas sehr Persönliches über das Wort „Liebe“ erzählen. Was bedeutet es? Denn in der deutschen Sprache wird „Loving Kindness“ mit „liebende Güte“ übersetzt. Und manchmal wird ‚kindness‘ auch mit Freundlichkeit übersetzt.

Als ich mit der liebenden Güte angefangen habe, habe ich gemerkt, dass ich das Wort ‚Güte‘ in meinem Leben überhaupt nicht verwende. Für mich war das ein sehr altmodisches Wort, das ich nur aus Märchen kannte. Da gibt es diese weise, alte Dame, die freundlich bzw. ‚gütig‘ ist. So war es für mich sehr interessant zu entdecken, was es bedeutet, ‚gütig‘ zu sein. Was heißt ‚gütig‘? Was beinhaltet das? Wer ist gütig? Bin ich gütig? Was bedeutet es für mich, ‚gütig‘ zu sein? Es wurde eine sehr persönliche Frage für mich, die noch nicht abgeschlossen ist. Es gibt noch viel mehr zu entdecken. Während dieser Reise habe ich viele verschiedene Facetten der Liebe entdeckt und mein Verständnis ist wirklich gewachsen.

Andrew: Wenn wir uns Praktiken des Mitgefühls ansehen, denken wir normalerweise an Liebe oder liebende Güte als Grundlage des Mitgefühls. Noch bevor wir uns also auf das Leiden anderer konzentrieren, geht es im Grunde nur darum, uns mit einer grundlegenden Freundlichkeit uns selbst und anderen gegenüber zu verbinden. Freundlichkeit oder auch einfach „guter Wille“. Wenn wir über Liebe in romantischen Beziehungen sprechen, gibt es auch Liebe und diese Liebe kann fantastisch sein, ich möchte sie nicht abwerten. Aber oft ist die Liebe in romantischen Beziehungen ziemlich bedingt, wir lieben die andere Person, solange sie uns auch liebt. Was passiert mit der anderen Person, wenn sie sich entscheidet, jemand anderen zu lieben? Unsere Liebe kann leicht in Groll oder sogar Hass umschlagen. Was wir also mit der Meditation der liebenden Güte kultivieren, ist etwas, bei dem wir uns tatsächlich mehr und mehr um das Wohlergehen der anderen Person kümmern und nicht so sehr darum, was wir von ihr bekommen. In der romantischen Liebe gibt es dabei auch Liebe, die Sorge ist um die andere Person, oder Zärtlichkeit, Wohlwollen. Es kann auch eine sehr echte Freundschaft im Herzen der romantischen Beziehung sein, aber wir müssen auch auf diese anderen Elemente achten, die hinzukommen können und die sich von der Liebe unterscheiden können.

Du hast auch das Beispiel der Liebe zwischen Eltern und Kind genannt, und das ist interessant. Sicherlich wird im Osten, in den verschiedenen Traditionen dort, oft von der Mutter als der Vollkommenheit der Liebe gesprochen. Das mag in unserem eigenen Leben nicht die Erfahrung gewesen sein. Eine Mutter bringt oft große Opfer für ihr Kind. Sie ist also ein ziemlich starkes Beispiel für die Tiefe der Liebe, auf die wir uns zubewegen – nicht, dass wir anfangen müssen, uns in irgendeiner Weise zu opfern – es zeigt nur die Tiefe der Liebe, die bedingungslose Liebe. Das kann manchmal als Vorbild dienen, ob es für uns hilfreich ist oder nicht. Oder vielleicht gibt es jemand anderen in unserem Leben, der besonders freundlich zu uns gewesen ist.

Oft gibt es eine echte Liebe zwischen Freunden. Unsere Freunde mögen wir vielleicht wirklich, aber manchmal kann es Spannungen geben, besonders wenn wir uns mit ihnen vergleichen. Wie ist es, wenn ein Freund oder eine Freundin den Job bekommt, den wir wollten, oder den Partner, den wir wollten, oder das Haus, das wir wollten? Es kann zu Eifersucht und Neid kommen. Es kann auch unsere Beziehung mit diesem Freund bzw. dieser Freundin verderben. Bei der Meditation der liebenden Güte geht es also darum, der Person, an die wir denken, bewusst Gutes zu wünschen. Und wenn wir anfangen, ihr mehr und mehr Gutes zu wünschen, ist es, als ob ihr Glück uns Glück bringt. Es ist eine Win-Win-Situation. Je mehr wir Wünsche für andere aussprechen, desto mehr können wir unser Leben genießen, uns am Wohlergehen anderer erfreuen.

WFS: Die Welt um uns herum scheint konkurrenzbetonter zu werden, es wird schwieriger, auf der sozialen Leiter aufzusteigen, es gibt große Probleme wie den Klimawandel und eine Pandemie. All diese Probleme scheinen global und strukturell zu sein. Wie hilft es dann, wenn ich als Einzelner lerne, mich selbst zu lieben oder eine liebevolle Haltung gegenüber anderen zu kultivieren?

Christine: Wenn Liebe in uns ist, dann ist da eine Art Stille und Frieden in uns. Und dadurch sind wir nicht im Konflikt mit uns selbst und anderen. Und das an sich, könnte man sagen, ist schon ein großer Beitrag. Wenn man nicht im Konflikt mit sich selbst und mit anderen ist.

 

Aus buddhistischer Sicht sehen wir die Welt manchmal nicht so, wie sie ist. Wir nehmen uns selbst als sehr getrennt von anderen wahr. Wir sind vielleicht sehr mit unserem Geisteszustand und unseren Gefühlen beschäftigt und damit, was. Wenn wir uns in liebender Güte üben, besteht einer der Schwerpunkte darin, wirklich anzuerkennen, dass es eine wechselseitige Abhängigkeit gibt. Und wenn wir eine Sache aus dieser Pandemie lernen können, dann ist es, dass wir voneinander abhängig sind. Das zeigt uns die Situation wirklich sehr direkt. Es hilft nicht, wenn ein Land es geschafft hat, die Zahlen nach unten zu bringen, wir sind so abhängig voneinander. Wir als Menschen müssen eine Lösung für die ganze Erde finden. Und auch wenn es eine sehr schwierige Zeit ist, so hoffe ich doch, dass dies eine der Lektionen ist, die wir daraus lernen können, dass wir erkennen, wie abhängig wir voneinander sind. Und dass es sehr wichtig ist, nicht nur nach unserem eigenen Wohlbefinden zu schauen und diese gegenseitige Abhängigkeit wirklich zu respektieren. Vielleicht ist Respekt hier ein gutes Wort.

Andrew: Ich würde auch sagen, ob wir es wollen oder nicht, wir beeinflussen uns die ganze Zeit gegenseitig. Selbst wenn wir uns von anderen distanzieren, hat das eine Wirkung. Wie wir miteinander umgehen, macht einen großen Unterschied. Man weiß nie, welchen Unterschied es macht, wenn man nur ein bisschen freundlicher zu jemandem ist. Etwas mag für uns keine große Sache sein, kann aber für jemand anderen eine große Wirkung haben. Ihr wisst vielleicht aus Erfahrung, dass es Auswirkungen auf uns selbst haben kann, wenn wir etwas Unfreundliches tun, und wir es sehr bedauern. Durch die Praxis der liebenden Güte und des Mitgefühls befähigen wir uns selbst und ermächtigen uns. Wir alle haben unsere Launen und wir alle haben Tage, an denen wir freundlich zu uns selbst sein müssen und uns nicht selbst verurteilen.  Und in jedem von uns steckt ein enormes Potenzial, einen positiven Effekt auf die Welt zu haben. Man weiß nie, wohin der Welleneffekt davon führen wird.

Was mir in den Sinn kam, als Du die Frage gestellt hast, ist, dass wir manchmal das Gefühl haben, dass wir keine große Wahl haben. Dass die Welt so ist, wie sie ist. Und dass sie uns in eine bestimmte Richtung drängt – welche Arbeit wir tun sollen oder welche Ressourcen wir nutzen sollen. Und manchmal ist da natürlich etwas dran, weil die Gesellschaft uns auf eine bestimmte Art und Weise unter Druck setzt. Aber ich finde es manchmal wirklich hilfreich, einen Schritt zurückzutreten und uns zu fragen, was uns wichtig ist. Was ist mir in meinem Leben wirklich wichtig? Was kann ich mit meinem Leben anfangen? Was entspricht meinen tiefsten Sehnsüchten? Und wenn wir uns darauf einstimmen können, ist das oft etwas ganz Gesundes. Es ist nicht so, dass wir alles aufgeben müssen, was wir bisher gemacht haben, aber es kann uns helfen, weise Entscheidungen zu treffen, die für uns selbst und für die Welt von Nutzen sein können

WFS: War in Eurer persönlichen Erfahrung – in dem Wissen, dass die Dinge meist nicht schwarz und weiß sind – die liebende Güte eine Praxis, die für Euch sofort oder leicht zugänglich war?

Andrew: Du sagtest ja bereits, es ist nicht unbedingt schwarz oder weiß, wie man sich zur liebenden Güte verhält. Aber eigentlich war es in meinem Fall so ziemlich hundertprozentig negativ. Ich wurde zum ersten Mal vor etwa 40 Jahren in der Meditation über liebende Güte unterrichtet. Ich hatte bereits seit etwa zehn Jahren Sitzmeditation praktiziert. Ich hatte ein buddhistisches Zentrum besucht, das abwechselnd in der einen Woche in der Meditationspraxis den Fokus auf den Atem und in der anderen Woche auf die liebende Güte legte. Ich war ganz angetan von der Atemmediation.

Die Woche mit liebender Güte-Meditation habe ich gehasst. Ich mochte sie wirklich nicht und es war frustrierend für mich. Ich saß da und wünschte mir Gutes für mich, für meine Lieben, für Freunde, für alle, aber ich fühlte nie wirklich etwas. Und ich fühlte mich nicht friedlicher. Ich wiederholte nur Worte. Es ist in gewisser Weise schon ironisch, dass das Nicht-Fühlen von etwas tatsächlich so viele negative Gefühle hervorrufen kann: es nicht zu mögen, nicht dabei sein zu wollen, „ich will diese Meditation nicht machen“. Es ist eine außergewöhnliche Sache, dass es darauf hinausgelaufen ist, dass ich diese Praxis jetzt unterrichte, und in gewisser Weise ist es nicht völlig zufälllig. Weil ich am Anfang eine so starke Abneigung dagegen hatte, musste ich mich wirklich damit auseinandersetzen, um meinen Weg damit zu finden.

Manchmal haben wir gerade gegen die Vorstellung, uns selbst zu lieben, eine heftige Reaktion. Weil ich selbst ähnliche Reaktionen hatte, gab es mir zumindest das Gefühl, qualifiziert zu sein, darüber zu unterrichten. Eines der Dinge, die ich am meisten gelernt habe, ist, dass es nicht den einen Weg gibt, liebende Güte zu praktizieren. Man muss nicht starr dabei sein. Wenn man diese Praxis in einer aufgeschlossenen Art und Weise erforscht, gibt es immer einen Weg, eine Beziehung zu ihr zu finden. Das bedeutet nicht, dass es immer einfach oder erhebend ist. Wir werden Gefühlen begegnen, die nicht Liebe und Freundlichkeit sind. Aber was auch immer wir erleben, es ist immer gut, uns zu fragen: „Wie kann ich damit mitfühlend zu mir sein? Was bedeutet es, mir selbst Liebe entgegenzubringen, wenn ich mich so fühle?“ Ich könnte auch erkennen, dass ich nicht der Einzige bin, der sich so fühlt, und dass andere Menschen auf ähnliche Weise kämpfen. Vielleicht sitze ich in einem Raum und die Hälfte der anderen Menschen ist nicht so glücklich. Dann könnte ich vielleicht denken: „Nun, mögen wir alle etwas Leichtigkeit damit finden, mögen wir alle größeren Frieden finden. Mögen wir alle fähig sein, Liebe zu erfahren, Liebe zu empfangen, Liebe zu geben“.  Es gibt immer einen Weg, eine Praxis so zu erforschen, dass sie sinnvoll werden kann. Und das ist nicht immer gegeben. Manchmal ist es am Anfang einfach überhaupt nicht da. Deshalb bin ich froh, dass ich nicht aufgegeben habe.

Christine: Das kann ich vollkommen nachvollziehen. Als ich die Praxis der liebenden Güte kennenlernte, klang das für mich zu „nett“. Zu weich. Der Klang der angeleiteten Praxis war für mich zu Friede, Freude Eierkuchen. Und ich dachte: „Nein, das gefällt mir nicht“. Es machte mich wütend. Es dauerte einige Zeit, bis ich erkannte, dass ich tatsächlich eine Traurigkeit in mir trug, und dass ich mich danach (nach Liebe) sehnte, aber dass ich nicht so leicht Zugang dazu fand. Und das brachte all diese anderen Emotionen hoch.

Je länger ich liebende Güte praktiziere, desto mehr denke ich, dass es wirklich Mut erfordert. Man muss wirklich mutig sein. Denn wenn man auf dem Kissen sitzt, kommt manchmal eine positive Emotion und man fühlt Liebe für die ganze Welt, aber manchmal auch nicht. Das Gegenteil von dem, was man sich eigentlich vorgestellt hat, kann passieren. Und es braucht Respekt, sich dem zu stellen, was da ist. Wir kommen also in Kontakt mit dem, wovor wir vielleicht Angst haben, in Bezug auf unseren Körper, wie Schmerzen oder Ängste, oder wir kommen in Kontakt mit dem, was unser Herz braucht oder was in unseren Geist los ist.  Es braucht eine gewisse Art von Mut, um Zeuge von all dem zu sein. Und je mehr wir in uns selbst wertschätzen und akzeptieren, mit allem, was da ist, desto mehr können wir andere wertschätzen.

Es gibt ein Zitat von Buddha, das besagt: „Du kannst die ganze Welt durchsuchen und du wirst niemanden finden, der deiner Liebe mehr wert ist als du selbst“.  Es ist nicht einfach, zu bezeugen, was in einem steckt. Aber ich habe gelernt, wie befreiend es sein kann, einfach nur Zeuge zu sein und alles, was auftaucht, mit Liebe, Respekt und Freundlichkeit zu behandeln – was auch immer man in sich selbst entdeckt – und wie heilend das sein kann.

Und wir können wirklich kreativ damit umgehen, und schauen, was unser Herz öffnet, was wir nutzen können, um mit der Liebe, die ursprünglich in uns ist, in Kontakt zu kommen.

Ich möchte eine Geschichte über das Öffnen des Herzens erzählen, weil sie so viel darüber zeigt, wie man mit dem Prozess der liebenden Güte kreativ sein kann. Jack Kornfield, ein bekannter Lehrer für Meditation, Buddhismus und auch für liebende Güte, erzählte, dass ein Mitlehrer von ihm ein Retreat für liebende Güte leitete und ein Student während dieses Retreats zu ihm kam und sagte: „Ich bin nicht sicher, wie ich liebende Güte praktizieren soll. Sie sagten, wir sollten etwas wählen, das inspirierend ist und uns hilft, unser Herz für uns selbst und andere zu öffnen und jetzt muss ich zwischen dem Dalai Lama und meinem eigenen Hund wählen“. Und dann schloss der Lehrer für einen Moment die Augen, dachte darüber nach und sagte dann: „Nun, ich denke, der Dalai Lama hat nichts dagegen, wenn du an deinen Hund denkst, solange das, was du verwendest, dir hilft, dein Herz zu öffnen und in Kontakt mit der Liebe zu kommen“ Und ich mag diese Geschichte so sehr, weil sie etwas Leichtigkeit in die ganze Praxis bringt. Es geht wirklich darum, kreativ zu sein, zu schauen, was unser Herz öffnet, was wir nutzen können, um in Kontakt mit der Liebe zu kommen, die ursprünglich in uns ist, und hier wirklich kreativ zu sein.

Ich möchte etwas teilen, das sich für mich durch die Arbeit mit Andrew wirklich verändert hat. Ich habe gelernt, die Unterstützung, Hilfe und Liebe, die ich erhalte, mehr zu schätzen, auch wenn es nur kleine Dinge sind. Einmal sollte ich in Hannover für ein Seminar mit Andrew übersetzen und war auf dem Weg zum Zug. Leider habe ich die Angewohnheit, das Haus zu spät zu verlassen, wenn es darum geht, Züge zu erwischen. Daran versuche ich schon lange was zu machen, aber es hat sich nicht geändert. Also war ich natürlich schon im Stress, als dann auch noch mein Koffer kaputtging. Ich konnte ihn nicht mehr ziehen. Also bin ich in ein Geschäft gelaufen und habe gesagt: „Ich bin total in Eile. Ich muss den Zug erwischen. Mein Koffer ist kaputt. Kann ich ganz schnell einen Schraubenzieher kaufen?“ Und da war dieser wirklich großzügige, entspannte Mensch in der Werkzeugabteilung, der sagte: „Oh, geben Sie mir das“, er nahm einen Schraubenzieher aus dem Regal, reparierte meinen Koffer, und ich konnte losrennen, um den Zug zu erwischen, und ich musste nicht einmal den Schraubenzieher kaufen.

Was ich wirklich interessant fand, war, dass wir am Nachmittag, als Andrew das Seminar hielt und ich übersetzte, diese Übung machten, bei der wir schauten, wie viel Freundlichkeit wir im Laufe des Tages erhalten hatten. Ich stellte fest, dass ich einige Zeit brauchte, um mich daran zu erinnern, was dieser Mann für mich getan hatte. Ich war schockiert. Ich hatte bereits vergessen, wie freundlich diese Person zu mir gewesen war, und das war erst drei Stunden her.  Ich lerne wirklich, meine Sichtweise zu ändern und Freundlichkeit mehr zu schätzen und ich erkenne, wie Taten der Freundlichkeit – selbst kleine Taten der Freundlichkeit – einen Unterschied im Leben anderer Menschen machen können. Sich an Freundlichkeit zu erinnern, macht einen Unterschied. Das ist etwas, das ich durch die Praxis der liebenden Güte gelernt habe.

Andrew: Wenn ich einen schlechten Tag habe oder eine schwierige Erfahrung mache, habe ich gelernt, was es bedeutet, mir in diesem Zustand liebende Güte zukommen zu lassen. Es ist vielleicht nicht das schlimmste Leiden der Welt was ich gerade erfahre – aber es ist immer noch ein Leiden, ein emotionales Unglücklichsein. Also habe ich erforscht, was es bedeutet, liebende Güte hineinzubringen. Was sind die Worte, die ich zu mir selbst sagen kann. Wenn ich mit einem guten Freund zusammen wäre, der sich in diesem Zustand befindet, was würde ich mir für ihn wünschen? Kann ich gütig zu mir selbst sein? Und dann wird es zu einer Art, mit mir selbst zu sein, so dass ich mich nicht in all den Gedanken, Geschichten über eine andere Person oder über mich selbst verliere. Ich kann mich selbst mehr akzeptieren, kann sanfter werden, ich kann mein Herz ein wenig offen halten, ganz behutsam, ganz vorsichtig.

Meine Haupterfahrung ist nicht, dass liebende Güte immer ein Wundermittel ist, aber es hilft mir, leichter und schneller durch die Dinge hindurch zu gehen mit weniger Klebrigkeit. Die Art und Weise, wie das geschieht, ist die Ausweitung einer gewissen Güte zu mir selbst, aber auch das Denken an andere. Manchmal ist es, wie Christine sagte, einfach das Erinnern an die Freundlichkeit der anderen. Manchmal ist es einfach, mit mir selbst freundlich und mitfühlend zu sein. Es ist die ergiebigste Zeit die Praxis zu erforschen, wenn die Dinge nicht so gut sind. Denn es gibt so viel über mich selbst zu lernen. Keiner von uns will unglücklich sein, wenn wir also etwas über uns lernen können, um tieferes Wohlbefinden und Glück zu finden, warum nicht? es mag nicht immer einfach sein, aber es lohnt sich definitiv.

Vor einigen Jahren beschloss ich, ein kurzes Dokument zu schreiben, wie man liebende Güte mehr in den Alltag bringen kann. Das letzte, was ich auf die Liste schrieb und das über die Jahre da geblieben ist, war:  „Gib niemals dich selbst und deine Fähigkeit, dich zu lieben, auf.“ Manche Menschen haben einen leichten Zugang zur liebenden Güte, sie wird zu ihrer Lieblingspraxis, sie beziehen sich sehr leicht und dauerhaft darauf. Aber es ist nicht immer so, besonders in schwierigen Zeiten.  Wenn wir aber den Mut haben, weiterzumachen – auch in schwierigen Zeiten – und die Tatsache ehren, dass wir alle diese Fähigkeit zu lieben in uns haben, können wir das Wohlbefinden in uns finden, das diese Fähigkeit mit sich bringt. Wir können weiterhin erfahren, dass selbst ein Feststecken unbeständig ist, dass es nicht andauert, dass es immer nur ein Geisteszustand ist, dass er sich ändern wird, und dass wir eine Menge Kapazitäten haben, um diese Änderung auf eine gute Weise zu unterstützen. Niemals aufgeben, unser Potenzial sehen – das ist eine fantastische Sache, dies zu erforschen!

Christine Warmuth

Christine ist Sozialpädagogin, Kommunikationstrainerin & Coach, zertifizierte Trainerin (CNVC) in Gewaltfreier Kommunikation und MSC*-Lehrerin in Ausbildung (MSC=Mindful Selfcompassion). Sie praktiziert seit 2000 den tibetischen Buddhismus und leitet seit 2011 die Meditation der Liebenden Güte.

Andrew Warr

Andrew ist ein erfahrener Meditationslehrer, der sich auf die Präsentation von liebevoller Güte und Mitgefühl spezialisiert hat. Er studiert und praktiziert Buddhismus seit 1984 und leitet regelmäßig Retreats in Dzogchen Beara, Irland, sowie an anderen Orten innerhalb und außerhalb Europas.

Neueste Beiträge