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#heartwise

R.I.P. Markus

Was wir auf der Straße über Mitgefühl lernen können

Das Schillerkiez ist ein buntes, junges Viertel in Berlin Neukölln. Auf seinen Straßen reihen sich neu eröffnete Restaurants an hippe Bars und kleine Ateliers. Das Publikum, das sich hier rumtreibt, besteht aus Studenten, jungen Familien, arty und alternativen Leuten aus der ganzen Welt. Man hört alle europäischen Sprachen,vor allem viel Englisch, und ab und zu sogar Sprachen, die man gar nicht kennt. Wenn man noch nie hier war, könnte man denken, man wäre ans Filmset einer prä-apokalyptischen Hipster-Utopie geraten… mit jeder Menge Tattoos.

In einem Hauseingang in diesem Viertel wohnte Markus – ein junger obdachloser Typ. Er war in gewisser Weise ein willkommener Teil dieses kleinen Ökosystems. Trotzdem starb er im Januar 2020 auf seiner Matratze an irgendeiner Krankheit. Ich habe nie mehr als ein paar Worte mit ihm gewechselt, was ich im Nachhinein etwas bereue. Aber ich meine, durch die Begegnung mit ihm ein bisschen mehr über Mitgefühl gelernt zu haben. Mitgefühl ist neben der Meditation eines der großen Themen im Buddhismus. Vielleicht lohnt es sich deshalb besonders, diese Geschichte zu erzählen. Zwei Begriffe sollten wir uns näher anschauen, bevor die Geschichte losgeht: Leiden und Mitgefühl – sorry, wenn das jetzt etwas heavy daherkommt.

Hauseingang mit Kerzen und zum Gedenken an Markus. Foto: Madlen Haarbach

 

Der Hauseingang mit Kerzen, Bildern, Gedichten und Blumen zum Gedenken an Markus. Foto: Madlen Haarbach

Unter dem Begriff „Leiden“ verstehe ich in seiner buddhistischen Bedeutung sowohl unmittelbare physische oder psychische Schmerzen als auch den ständigen Wechsel der Hochs und Tiefs des Lebens. Und dann wird da noch über ein subtiles Unwohlsein gesprochen, das man ab und zu erlebt, wenn man doch eigentlich einfach zufrieden sein könnte.

Mitgefühl wird im Buddhismus definiert als ein aktives Streben danach, sowohl das Leiden aller anderen als auch das eigene Leiden zu lindern. Am besten dauerhaft. Das klingt vielleicht nach einem etwas hochtrabenden Unterfangen, aber beginnen wir mal mit dem ersten Schritt.

Die Grundlage von Mitgefühl ist vielleicht eine Art mitfühlender Impuls, eine Geisteshaltung oder ein Wunsch, etwas gegen das Leiden von Lebewesen zu tun.

In der Psychologie und Philosophie, sowie in verschiedenen buddhistischen Strömungen, gibt es unterschiedliche Antworten auf die Frage, inwiefern dieser Impuls eine natürliche Eigenschaft oder eher etwas wie erlernbares Verhalten ist. Wie dem auch sei, ich gehe jedenfalls davon aus, dass wir alle lieber Menschen treffen, die zumindest ein bisschen Offenheit für unsere Probleme zeigen – und im besten Falle sogar dazu beitragen, sie zu lösen.

Wodurch entsteht diese Offenheit, was sind die Grundlagen von mitfühlendem Denken und Handeln? Die grundlegendste Voraussetzung für den Wunsch, anderen zu helfen, ist aus meiner Sicht ein zumindest minimales Gewahrsein dafür, was um uns herum passiert, und ein Gefühl von ein klein bisschen Wärme für die darin involvierten Lebewesen.

Die erste Begegnung mit Markus, dem Obdachlosen, zeigte beide Aspekte direkt und eindrücklich. Es muss gegen 7:30 Uhr morgens passiert sein, als ich etwas verpennt auf dem Weg zur Arbeit war. Er tauchte auf dem Bahnsteig der U-Bahn gefühlt aus dem Nichts auf, in wirklich gigantischer Lautstärke schreiend und fluchend. Das brachte mich mit einer ordentlichen Portion Adrenalin plötzlich recht fokussiert in die Gegenwart. Ich überlegt damals aber vor allem, ob Angriff oder Flucht wohl die bessere Strategie wäre – und vielleicht noch, ob man andere vor ihm beschützen sollte. Es war also in gewisser Weise ein kleiner erster Schritt in Bezug auf Mitgefühl, aber ohne viel Fürsorge für den Protagonisten der Geschichte.

Über die nächsten Monate wurde das Schreien und Schimpfen von Markus eine Art tägliches Erlebnis auf meinem Arbeitsweg. Ich vermute, das lag daran, dass er in dieser Phase ganz einfach große Teile seines Tages damit verbrachte. Mit der Zeit, und auch mit Hilfe der einen oder anderen Meditation, ging meine Angst vor der Lautstärke und Heftigkeit von Markus’ verbalem Gewitter immer mehr verloren. Wenn man ihn relativ angstfrei anschaute, während er schreiend auf einen zulief, fragte er manchmal fast kollegial nach Geld.

In dieser Schrei-Phase wurden wahrscheinlich einige Leute im Viertel auf ihn aufmerksam, vielleicht auch ein sozialer Dienst. Markus war allmählich fast so gut gekleidet wie ich, hatte eine nagelneue Matratze und ein kleines Radio, auf dem er Hip-Hop Radiosender hörte. Er schrie immer weniger, hatte gleichzeitig aber auch immer öfter einen recht desillusionierten Blick – viel weniger verstörend, aber auch irgendwie trauriger.

Während eines Abendessens mit ein paar Freunden, die in der gleichen Gegend leben, stellten wir fest, dass wir Markus alle kannten und er uns manchmal wie ein Freund aus der Kindheit an eine mehr vom Schicksal gebeutelte Version von uns selbst erinnerte.

Im buddhistischen Geistestraining ist genau dieser Moment des Entdeckens des Gemeinsamen, Ähnlichen und Verbindendem ein wichtiger Schritt bei der Entwicklung von Mitgefühl. Auch die sozialpsychologische Forschung beschreibt seit den 1960er Jahren wahrgenommene Ähnlichkeit zwischen Menschen als einen Faktor, der das Entstehen von Freundschaften beeinflusst. In unserem Fall entstand Mitgefühl einfach durch das Gespräch darüber sich selbst, oder zumindest etwas Bekanntes, in jemandem zu sehen der leidet. Wenn dieses Verständnis nicht von alleine entsteht, wird im buddhistischen Geistestraining vorgeschlagen, sich immer wieder zu vergegenwärtigen, dass das Gegenüber sich (genau wie man selbst) gute, angenehme und erfüllende Zustände wünscht – diese aber, wie man selbst, auch immer wieder nicht bekommt.

Jetzt wäre der Punkt, an dem etwas in mir gerne die revolutionäre Erfolgsstory des mitfühlenden Gedanken und der Rettung von Markus, dem Obdachlosen, erzählen würde. Leider geht die Geschichte etwas weniger revolutionär – aber dafür irgendwie echter – weiter.

Markus starb nämlich im letzten Januar auf dieser Matratze, anscheinend an einer behandelbaren Infektionskrankheit. Ich war zu der Zeit nicht in der Stadt, hätte aber wohl, auch wenn ich dagewesen wäre, nicht eigenständig etwas unternommen. Vielleicht hätte ich sogar erstmal gar nichts gemerkt, weil er durch sein neues ruhiges Verhalten in meinem Alltag gar nicht mehr so präsent war.

Auf die Wand, an der seine Matratze lag, haben einige Leute nach seinem Tod Nachrufe geschrieben. Manche waren eher persönlich, manche eher politisch begründet. Worin sich die Autoren einig waren: Sie alle fanden es ziemlich unerträglich, dass er in dem Hauseingang gestorben war und es sozusagen kollektiv nicht geklappt hatte, das zu verhindern. Ich muss sagen, ich kann mich dem anschließen.

Für mich ist das fast der schwierigste Punkt an Mitgefühl – der Moment, in dem man Anteil nimmt, vielleicht sogar die eine oder andere Anstrengung unternimmt, sich wirklich einlässt, aber die Dinge gehörig schiefgehen oder zumindest nicht annähernd so gut laufen, wie man es sich erhofft hatte.

Es ist aber auch der Punkt, an dem mir die buddhistischen Perspektiven auf Mitgefühl  vielleicht am meisten helfen. Was im Buddhismus unter Mitgefühl verstanden wird, also der Wunsch, Leiden zu lindern und Gutes in die Welt zu bringen, ist ja an sich keinesfalls eine „buddhistische Idee“ – ganz im Gegenteil. Mitfühlendes Denken und Handeln sind ein integraler Teil vieler Weltanschauungen und Religionen und glücklicherweise oft auch Common Sense.

Was die buddhistische Vision von Mitgefühl für mich besonders macht, ist, dass sie ideell alle Lebewesen mit einschließt. Denkt man in diesem Sinne mal kurz über die unglaubliche Vielzahl von Lebewesen und die Vielfältigkeit und Komplexität ihrer Probleme nach, sprengt diese Vision von Mitgefühl jede zeitliche oder praktische Begrenzung. Das Gute an einem Vorhaben dieser Größenordnung ist, dass es notwendigerweise dazu anregt, viel Raum für Schwierigkeiten und Rückschläge zu schaffen bzw. die Hoffnung auf schnelle Erfolge über Bord zu werfen.

Ein weiterer Aspekt, der Mitgefühl im Buddhismus aus meiner Sicht auszeichnet, ist das Verständnis der Ursachen von Leiden. Die Ursachen aller Probleme und menschlichen Tragödien werden trotz ihrer Vielzahl, Schwere und trotz unserer begrenzten Möglichkeiten als lösbar gesehen. Lösbar sind sie insofern, als dass wir natürlich alles in unserer Macht stehende tun können, um sie temporär und partiell zu beheben. Im Fall von Markus bedeutet das zum Beispiel, ihm eine Decke zu schenken, was ihn für eine Weile vor Kälte schützt, aber eben  leider nur eine begrenzte Hilfe darstellt.

Um mit dieser Begrenztheit umzugehen, wird vorgeschlagen, sich noch grundsätzlicher mit den Ursachen von Leiden auseinanderzusetzen. Sind diese Ursachen vollständig verstanden, ist der Weg aus dem Leiden heraus zwar unter Umständen noch weit, aber immerhin offensichtlich – etwa so, als würde man plötzlich die Landkarte im Rucksack wiederfinden, von der  man glaubte, sie zuhause vergessen zu haben. Dieser Schritt einer grundsätzlichen Auseinandersetzung mit den Ursachen von Leiden ist ein hochspannendes Thema. Er geht tief in das buddhistische Verständnis von Geist („mind“) und wie wir unter der Annahme eines individuellen, quasi-ewigen Selbst nach Glück suchen. Aus Zeit- und Platzgründen und vielleicht auch aus mangelnder eigener Einsicht möchte ich hier nicht viel weiter auf diesen Punkt eingehen – unter dem Themenfokus „Identity and Freedom“, der im November 2021 hier auf Wisdom for Society beginnt, wird das Thema eingehender besprochen. Zum Abschluss möchte ich noch zwei Zitate, die für mich eine wertvolle Illustration von Mitgefühlspraxis bietet. Das Erste kommt von einem Freund, der wirklich nicht gerne zitiert wird, deshalb lasse ich seinen Namen hier mal weg. Das Zweite ist von der US-amerikanischen Autorin Elizabeth Mattis Namgyel. Einen Vortrag von von ihr der ihr Zitat als Titel trägt und etwas buddhistisches Grundlagenwissen voraussetzt, ist unten verlinkt. Danke für eure Zeit und viel Spaß beim Kontemplieren:

“Life is like a dream, your job is to be kind.”  (Anonym)

“Burning with love in a world we can’t fix.” (Elizabeth Matthis Namgyel)

Mehr Material zu Meditation und Mitgefühl findest du hier.

Hier findest du den Vortrag von Elizabeth Mattis Namgyel.

Fian Löhr

Nach einigen Jahren Selbststudium und Erfahrungen mit verschiednen kontemplativen Traditionen, besuchte Fian 2011 ein erstes Meditations-Retreat in der tibetisch-buddhistischen Tradition. Seit 2017 nimmt er an einem 7-jährigen Studienprogramm teil, in dem die philosophischen Grundlagen des Buddhismus, sowie ein stufenweises Training in Meditation vermittelt werden. Er hat Psychologie an der Fernuniversität in Hagen studiert und ist seit 2021 Geschäftsführer des Rigpa e.V.​​

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