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#freedomandidentity

Was denkst du, wer ich bin?

Eine Begegnung außerhalb von Schubladen

Wenn du eine Straße in deinem Wohnviertel entlang spazierst und mich auf dem Gehsteig stehen siehst, was würdest du wohl denken? Würdest du nur eine große Frau bemerken, oder würdest du dich über mein Aussehen wundern und nicht entscheiden können, ob ich ein Mann oder eine Frau bin? Du würdest dich höchstwahrscheinlich nicht fragen, ob ich eine Familie habe oder ob ich an einer Universität studiert habe. Du würdest mit ziemlicher Sicherheit nicht erraten, dass ich zwei erwachsene Töchter habe, einen Doktortitel in Mathematik besitze, seit 25 Jahren tibetischen Buddhismus studiere und in einem buddhistischen Zentrum in Südfrankreich lebe.

In dem unwahrscheinlichen Fall, dass du deinen flotten Spaziergang unterbrichst und mich in ein Gespräch verwickelst, würdest du als höfliches und wohlerzogenes Mitglied der modernen Gesellschaft vielleicht zögern, deiner Neugier folgend mich sofort auf meine persönliche Geschichte und geschlechtliche Identität anzusprechen. Vielleicht würde es mir Spaß machen, mich mit dir zu unterhalten, wir würden uns auf einen Kaffee zusammensetzen, und irgendwann würdest du dich wohl dabei fühlen, deine Fragen zu stellen. Ich würde dir dann Folgendes erzählen.

Mein ganzes Leben lang habe ich mich unzufrieden und unbehaglich in Bezug auf meine soziale Rolle gefühlt. Nachdem ich fast ein halbes Jahrhundert als Mann gelebt hatte, hat sich in meinem Kopf eine Idee geformt. Ich könnte aufhören, Mann zu sein, und den Rest meines Lebens als Frau leben. Es dämmerte mir, wie viele meiner Probleme auf das mir zugewiesene Geschlecht zurückgeführt werden konnten. Also, entweder ändere ich mein soziales Geschlecht oder verbringe den Rest meines Lebens in einer leichten, aber allgegenwärtigen Depression. Die Änderung meine sozialen Geschlechts war die einzig vernünftige Alternative, auch wenn ich manchmal Angst davor hatte, wie meine Freunde und mein Umfeld auf diese Veränderung reagieren würden. Außerdem wusste ich nicht, ob ich mich selbst als Frau betrachten könnte. Als Anhängerin der Lehren Buddhas, die die Notwendigkeit betonen, allmählich alle unsere Konzepte aufzulösen, sowohl von uns selbst als auch von der Welt um uns herum, war ich besorgt, dass die Änderung meiner Geschlechtsbezeichnung zu mehr Konzepte in meinem Geist führen würde, anstatt zu wenigeren.

Weniger als zwei Jahre nach der Geburt dieser Idee, während ich immer noch mit meinen Ängsten und unbeantworteten Fragen kämpfte, verkündete ich meiner Umgebung, dass ich mich von einem Mann in eine Frau verwandeln würde, und änderte meinen Namen von Robert zu Naomi. Kurz nach dieser Ankündigung zog ich mich für zwei Monate in ein Einzelretreat zurück. Am Ende dieser zwei Monate fragte ich mich, ob die Abwesenheit jeglicher sozialer Interaktion es mir klarer gemacht hat, wie ich mich selber sehe. 

Also fragte ich mich: „Verstehe ich mich als Mann oder als Frau, als nichtbinär or genderfluid? Sehe ich mich als Robert oder als Naomi?“ Als ich über diese Fragen nachdachte, wurde mir klar, dass keine dieser Bezeichnungen zutraf. Ich war einfach ich selbst, und das war’s. Ich fand diese Schlussfolgerung ziemlich verblüffend. Wenn ich mich damit wohlfühle, ich selbst zu sein, warum hatte ich dann so viel Zeit, Energie und Gefühle in den Prozess der Umwandlung vom Mann zur Frau investiert? Hatte ich mir selbst etwas vorgemacht?

Wieder dachte ich über diese paradoxe Situation nach und kam langsam zu der Erkenntnis, dass diese beiden Dinge eigentlich nicht im Widerspruch zueinander stehen. Das Paradox löste sich wie folgt für mich auf.

Wenn wir Menschen miteinander in Beziehung treten, haben wir meistens ein unvollständiges Verständnis von der anderen Person. Gewöhnlich fällen wir ein schnelles Urteil darüber, mit welcher Art von Person wir es zu tun haben, und verwenden dann diesen Persönlichkeitstyp als eine erste Personenbeschreibung. Wir könnten zum Beispiel entscheiden, dass die Person vor uns eine extrovertierte, intellektuelle Frau ist, und entsprechend mit ihr interagieren. Natürlich werden all diese Entscheidungen nicht bewusst getroffen, sondern geschehen, ohne dass wir es überhaupt bemerken. Die gröbste Vereinfachungsmöglichkeit, die unserem Unterbewusstsein zur Verfügung steht, ist, jemanden als männlich oder weiblich zu identifizieren.

Mein Selbstverständnis ist weit von dem Bild entfernt, das unsere Gesellschaft von einer männlichen Person hat. Natürlich passt das Bild, das die Gesellschaft von einer Frau hat, auch nicht perfekt zu mir, aber zumindest kommt es meinem Selbstverständnis näher. Aus diesem Grund verkündete ich der Welt, dass ich weiblich bin und veränderte mein Aussehen so, dass die Menschen mich als weiblich und nicht als männlich wahrnehmen.

Ich habe jedoch erkannt – und das war eine wichtige Einsicht -, dass ich mein Selbstbild nicht ändern muss. Da ich mich selbst besser kenne, als es irgendjemand sonst jemals könnte, muss ich nicht auf eine Vereinfachung zurückgreifen. Der Sinn einer Vereinfachung besteht darin, uns zu helfen, wenn wir jemanden nicht wirklich gut kennen. Wenn wir uns aber unter Druck setzen, uns auf die eine oder andere Weise zu verändern, um einem vereinfachten Bild von uns selbst zu entsprechen, führt das unweigerlich zu seelischen Ängsten und stört unser psychisches Wohlbefinden. Genau aus diesem Grund haben so viele Frauen so hart für eine Gesellschaft gekämpft, in der sie aus den ihnen zugewiesenen Geschlechterrollen ausbrechen können. 

Natürlich könnte man einwenden, dass es nach dieser Logik für jemanden, der mich wirklich gut kennt, keinen Grund gäbe, mich als Frau anstatt als Mann anzusprechen. Das Argument ist zwar clever, hält aber einer genaueren Prüfung nicht stand. Wenn du glaubst, mich gut zu kennen, aber darauf bestehst, dich sprachlich auf mich weiterhin als männlich zu beziehen, dann hast du mich wahrscheinlich doch nicht so gut gekannt. Wenn du mich tatsächlich sehr gut kennst und mich nicht mehr als männlich oder weiblich siehst, musst du trotzdem eine Art von Geschlechtsbezeichnung verwenden, wenn du dich in einem Gespräch auf mich beziehst. Die Geschlechtsbezeichnung, die du verwendest, wird bestimmen, wie andere Menschen sich zu mir verhalten. Um eine falsche Vorstellung zu vermeiden, würdest du mich also als weiblich und nicht als männlich bezeichnen. Es sei denn, das Verursachen von Fehlwahrnehmungen wäre für deine persönlichen Ziele hilfreich.

Nun könntest du in dieser ganzen Diskussion „Geschlecht“ und „Geschlechterrollen“ durch jede andere Bezeichnung ersetzen, die wir uns gegenseitig geben. Wenn wir uns lebhaft bewusst wären, dass jedes Etikett, das wir auf eine andere Person anwenden, nur eine Vereinfachung ist, dann wäre unsere Interaktion wahrscheinlich ganz anders; wir wären begierig, mehr über andere Personen zu erfahren, um über unsere anfängliche vereinfachte Sichtweise hinauszukommen. Was wäre, wenn du zum Beispiel deinen Bäcker als ein unbekanntes menschliches Wesen siehst, dessen Geschichte und Gefühle dein Interesse und deine Sympathie verdienen?

Wie wir gesehen haben, würde ich, wenn ich dir zum ersten Mal begegne, instinktiv die Komplexität und den Reichtum deines Aussehens, deiner Weltanschauung, deiner emotionalen Verfassung, deinen Gewohnheiten, deiner Geschichte usw. vereinfachen und auf ein Etikett reduzieren, das es mir leichter macht, eine Beziehung zu dir aufzubauen. Leider werden diese Etiketten in unserer Gesellschaft oft als Rollenbeschreibungen aufgefasst, und du könntest dich verpflichtet fühlen, sich dem Etikett entsprechend zu verhalten, das ich dir gerade aufgedrückt habe. Oder, was noch schlimmer ist, wir ersetzen ein gesundes Selbstverständnis mit dem Etikett, das uns andere Menschen geben. Wenn du zum Beispiel gerade Mittelschullehrer geworden bist, könntest du dich von nun an als Lehrer betrachten und glauben, dass du dich entsprechend verhalten müsstest. Ich denke, das wäre ein großer Fehler! Du bist so viel mehr als ein Mittelschullehrer, und natürlich könnte dein Job ganz unerwartet enden, und wie würdest du dich dann sehen?

Du fragst dich vielleicht, ob mein Geschlechtswechsel erfolgreich war, ob er mich zu einem glücklicheren Menschen gemacht hat. Meine Antwort ist ein klares Ja, und ich weiß, dass meine Freunde, die meine Umwandlung beobachtet haben, mir zustimmen würden. Natürlich kommen weiterhin Emotionen im Zusammenhang mit meiner Geschlechtsumwandlung auf, aber sie halten zum Glück nicht allzu lange an. Meine neu gefundene Leichtigkeit im Leben ist jedoch nicht nur auf die Änderung des Geschlechts zurückzuführen. Die Reflexionen und Überlegungen, die ich hier beschrieben habe, haben mir geholfen, mich frei von jeglicher Etikettierung oder Geschlechtszugehörigkeit zu fühlen, nicht mehr darüber nachzudenken, wie andere Menschen mich sehen, und einfach zu sein. 

Naomi Gassler

Naomi Gassler

Naomi ist Schriftstellerin, langjährige Meditierende und Lehrerin in der Rigpa-Organisation. Sie studierte Physik und Mathematik und promovierte an der Northeastern University in Boston, USA. 1997 zog sie nach Lerab Ling, Rigpas Retreatzentrum in Südfrankreich, und unterstützt seither die Übersetzung und Weitergabe der alten buddhistischen Weisheit an die westliche Welt. Sie interessiert sich leidenschaftlich für neue Wege, um die Weisheit und das Mitgefühl der Lehren des Buddha in unsere täglichen Aktivitäten zu integrieren und so die Trennung zwischen dem täglichen Leben und dem eigenen spirituellen Weg aufzulösen. Naomi, eine Transgender-Frau, kocht und backt gerne für ihre Freunde und Familie. Es macht ihr besonders viel Freude für Ihre Freunde Holzhäuser in Lerab Ling zu bauen.
Naomis Empfehlung, wenn du noch mehr zu dem Thema wissen möchtest: Gender Rebels Podcast: https://genderrebels.podbean.com

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